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Auf zu Neuem 1/3

Egon Schiele, Frontale Ansicht eines Frauentorsos mit dickem Bauch, 1910, Sammlung E. und H. H.

Höhepunkt und Untergang:
Die Epoche Egon Schieles

Sexuelle Revolution, Kunstskandale und radikale Nacktheit. Künstlerinnen und Künstler erkennen den Menschen in seiner Triebhaftigkeit, seinen Zwängen und seiner Zerbrechlichkeit. Was nach Hippiekultur der 68er-Generation klingt ist in Wahrheit die Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts. Damals begann die Fassade einer heilen Welt zu bröckeln. Die Wahrheit dahinter war beängstigend und verwirrend. Sie bildet das Fundament der Moderne und hat unsere Gegenwart vorbereitet.

All das konnte an einem Schauplatz stattfinden, dessen Bedeutung immens war. Wien war im frühen 20. Jahrhundert die Hauptstadt eines Großreichs in Mittel- Süd- und Osteuropa und war mit 2 Millionen Einwohnern eine Mega-City, die sich im Top-Five-Ranking der Erde wiedergefunden hat. Es erschienen hier rund 50 Tageszeitungen in zahlreichen Sprachen der Donaumonarchie, kurzum: Wien war eine Weltstadt.

Expressive Bildsprache und Enfants terribles

Gleichzeitig entstand hier ein Zentrum europäischer Kunst und Kultur. Der umfassende Aufbruch erfasste alle Künste. Gustav Klimt bildet die Basis der Wiener Moderne. Sein Werk ist Bezugspunkt und Reibebaum der nachfolgenden Künstlergeneration, die den österreichischen Frühexpressionismus entwickeln sollte. Richard Gerstl macht den Anfang, seine wilden, in Farbflecken auf die Leinwand geworfenen Landschaften wurden allerdings nicht ausgestellt, während Oskar Kokoschka einen spektakulären Auftritt als Enfant terrible hinlegte. Die Kunstschau 1908 feiert mit Kokoschka ihren Rebellen. Aus den zahlreichen ablehnenden Kommentaren bleibt der „Oberwildling“ bis heute an Kokoschka kleben.

Der um vier Jahre jüngere Egon Schiele folgt mit seiner expressiven Bildsprache 1910, als Kokoschka Wien bereits verlassen hatte. Ab diesem Zeitpunkt sollte Schiele die Avantgarde in Wien anführen. Schieles Kunst trifft einen Tenor, wie ihn Hermann Bahr als Beschreibung des Expressionismus verfasst hat: „Niemals war eine Zeit von solchem Entsetzen geschüttelt von solchem Todesgrauen. Niemals war die Welt so grabesstumm. Niemals war der Mensch so klein. Niemals war ihm so bang. Niemals war Freude so fern und Freiheit so tot.“

Unverfrorene Darstellung der Nacktheit

Die Aktdarstellung ist zentral für den Expressionismus und sollte Schiele schlagartig bekannt machen. Wie schon Kokoschka zwei Jahre zuvor entdeckt auch Schiele seine Modelle in der sozialen Unterschicht auf den Straßen Wiens. Schiele löst sich in der Darstellung der Nacktheit von den künstlerischen Konventionen seiner Zeit und spiegelt darin Befindlichkeiten der Menschen. Dass Schieles Akte dem Betrachter so unmittelbar entgegenspringen und jede Distanz verweigern ist neuartig und fokussiert die Individualität eines Gegenübers, das von seiner sexuellen Verfügbarkeit befreit worden ist.

Während des I. Weltkriegs entstehen beeindruckende Kunstwerke, zahlreiche Künstler schließen sich dem Kriegsgeschehen mit Begeisterung an, bevor sie geläutert als Pazifisten den Zusammenbruch des Habsburgerreiches erleben. Mit der Katastrophe ist der zentralste Abschnitt der österreichischen Moderne vorbei. Die Errungenschaften dieser Ära bilden jedoch bis heute das zentralste Fundament der österreichischen Moderne. So beginnt die Ausstellung „Auf zu Neuem“ einen rasanten Parcours, der bis in die 1990er-Jahre führen wird.

Christian Bauer
Künstlerischer Direktor Landesgalerie Niederösterreich

Auf zu Neuem. Drei Jahrzehnte von Schiele bis Schlegel aus Privatbesitz

ab 27. März 2021

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